Nadelspitze
Thema des Monats Mai 2004
Ein geplatzter Auftrag
Nadelspitze, Teilstück für eine Tischdecke. (Um 1948)
Seit kurzem befindet sich im Bestand des Egerland-Museums ein besonderer Schatz an Egerländer Nadelspitzen. Die Sammlung umfasst insgesamt elf mehrteilige Nadelspitzenarbeiten für eine große Tischdecke, zahlreiche handgezeichnete Mustervorlagen und einen kleinen Pappkarton mit Garnrollen. Inventarisiert unter den Nummern 14301/1-2 bis 14339 erzählen diese wertvollen Nadelspitzen eine Geschichte aus der Nachkriegszeit.
Theresia Hellmich erlernte die Kunst der Nadelspitzentechnik in einer kleinen Spitzennähschule in Lauterbach Stadt im Bezirk Elbogen. Nach der Vertreibung 1946 fand sie und ihre Familie nach mehreren Lageraufhalten in Neckarsteinach in Hessen eine neue Heimat. Dort erhielt sie im Jahr 1948 von einem Offizier der amerikanischen Armee den Auftrag eine große Nadelspitzen-Tischdecke mit einzelnen Jagdmotiven für ein Herrenzimmer anzufertigen. Begeistert über diesen willkommenen Zusatzverdienst fing Theresia Hellmich mit den Planungen für die Tischdecke an. Die Musterentwürfe wurden bei Anton Hafenrichter, einen bekannten Musterzeichner für die Gossengrüner Spitzennähschule, bestellt. Das notwendige Leinengarn für die Nadelspitze besorgte sie eigenhändig in der Schweiz. Zusammen mit ihrer Verwandten Maria Moissl, einer gelernten Schneiderin, begannen die mühevollen Näharbeiten an der bestellten Tischdecke. Als rund ein Viertel der einzelnen Nadelspitzenstücke fertiggestellt war, wurde jedoch der amerikanische Offizier abkommandiert und verließ, ohne eine Anschrift zu hinterlassen, die Region. Enttäuscht über die entgangene Entlohnung stellten die beiden Spitzennäherinnen die Arbeit sofort ein. Die Tischdecke wurde nie fertiggestellt. Die bereits genähten einzelnen Nadelspitzenstücke wurden wutentbrannt weggeräumt und lagerten jahrelang vergessen in einem Schrank, bis sie in den Weg ins Egerland-Museum fanden.
Die Nadelspitze (point à l`aiguille) wird im Volksmund als Blumennäherei (mundartlich „Blåumanahn“) bezeichnet. Das Muster wird auf ein weißes Papier gepaust und dann auf ein schwarzes oder gelacktes Papier mit darrunterliegenden weichen Filzstoff geheftet und die Konturen des Musters durchstochen. Entlang dieser Linie werden dann Fäden gelegt, die mit Hilfe durchgehender Stiche befestigt werden. Diese Konturfäden bieten nun Halt um die Stiche zu setzen und so die Muster mit Grund zu füllen. Einen dichten Stich bezeichnet man als „Plat“, einen luftigen Stich als „Gaz“. Als nächster Schritt wird um die Konturen ein Faden mehrfach geschlungen, bis zu vierzigmal, was man als „Relief“ bezeichnet. Zum Abschluss wird die fertige Nadelspitze von Muster und Untergrund befreit und zu größeren Stücken zusammengesetzt. Feine Nadelspitzen stellte man vor allem in Gossengrün und den umliegenden Ortschaften her.
Wie viele tausend Arbeitsstunden Theresia Hellmich und Maria Moissl an den filigranen Nadelspitzenstücken verbracht haben, kann man sich als heutiger Betrachter kaum mehr vorstellen. Leider ist die Kunst der Nadelspitze in Vergessenheit geraten. Es wäre interessant mehr über diese Handarbeitstechnik und die Spitzennähschulen zu erfahren. Das Egerland-Museum würde sich über Informationen sehr freuen.
Carola Reul M.A.
wissenschaftliche Mitarbeiterin des Egerland-Museums
Literatur:
Heil, Lore, Klöppel- und Nadelspitzen aus dem Egerland und Erzgebirge, Schriftenreihe Egerland-Museum, Band 1, Marktredwitz 1990.